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>Dem Vorbringen des Klägers | >Dem Vorbringen des Klägers | ||
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- | >- Versuch der Zwangsrekrutierung durch einen für die Taliban tätigen Onkel verbunden mit vielfältigen Bedrohungen, | + | >- Versuch der Zwangsrekrutierung durch einen für die Taliban tätigen Onkel verbunden mit vielfältigen Bedrohungen, |
+ | Eheschließung der Eltern des Klägers - | ||
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>ist ein auf flüchtlingsrelevante Merkmale gerichteter Zugriff zu entnehmen, dem insbesondere eine Verfolgung wegen der politischen und religiösen Überzeugung zu entnehmen ist. Die geltend gemachte Verfolgung zielt auf eine dem Kläger und seinen Eltern zugeschriebene Gesinnung und des Weiteren auf unveräußerlichen persönlichen Merkmalen. Es handelt sich aufgrund der glaubhaften Darstellungen des Klägers nicht lediglich um familieninterne Auseinandersetzungen. | >ist ein auf flüchtlingsrelevante Merkmale gerichteter Zugriff zu entnehmen, dem insbesondere eine Verfolgung wegen der politischen und religiösen Überzeugung zu entnehmen ist. Die geltend gemachte Verfolgung zielt auf eine dem Kläger und seinen Eltern zugeschriebene Gesinnung und des Weiteren auf unveräußerlichen persönlichen Merkmalen. Es handelt sich aufgrund der glaubhaften Darstellungen des Klägers nicht lediglich um familieninterne Auseinandersetzungen. | ||
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- | >Im Falle des Klägers wird die von seinem den Taliban zugehörenden Onkel aufgestellte und nachdrücklich verfolgte Forderung nach Teilnahme am Dschihad weitergehend verknüpft mit dem Ansinnen, das aus Sicht der Taliban grob schuldhafte, | + | >Im Falle des Klägers wird die von seinem den Taliban zugehörenden Onkel aufgestellte und nachdrücklich verfolgte Forderung nach Teilnahme am Dschihad weitergehend verknüpft mit dem Ansinnen, das aus Sicht der Taliban grob schuldhafte, |
+ | Wiederherstellung der besudelten Familienehre hinzukommt, beseitigt nicht die Verfolgung des Klägers und seiner Familie in einer Art Sippenhaft wegen religiöser und/ oder ethnischer Andersartigkeit. | ||
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>musste der Kläger entweder mit „Bestrafung“ seiner selbst oder von Familienangehörigen und mit erheblicher Druckausübung mit dem Ziel rechnen, ihn zu den von ihm verlangten Unterstützungsleistungen zu zwingen oder aus Rache wegen seiner Flucht bei Erbringung dieser Unterstützungsleistungen. Im Falle einer Verweigerung drohte ihm oder seinen Angehörigen ein körperlicher Übergriff von erheblichem Gewicht. Es kann nicht mit hinreichender Sicherheit davon ausgegangen werden, dass die Gruppierung angesichts des Zeitablaufs inzwischen das Interesse an ihm verloren haben könnte. Dagegen spricht, dass sein Onkel für eine entsprechende Verfolgung sorgen könnte wegen der aus seiner Sicht nicht gesühnten, verabscheuungswürdigen schweren religiösen und politischen Verfehlung seiner, des Klägers, Eltern und seiner Ablehnung, in den Dschihad zu ziehen. | >musste der Kläger entweder mit „Bestrafung“ seiner selbst oder von Familienangehörigen und mit erheblicher Druckausübung mit dem Ziel rechnen, ihn zu den von ihm verlangten Unterstützungsleistungen zu zwingen oder aus Rache wegen seiner Flucht bei Erbringung dieser Unterstützungsleistungen. Im Falle einer Verweigerung drohte ihm oder seinen Angehörigen ein körperlicher Übergriff von erheblichem Gewicht. Es kann nicht mit hinreichender Sicherheit davon ausgegangen werden, dass die Gruppierung angesichts des Zeitablaufs inzwischen das Interesse an ihm verloren haben könnte. Dagegen spricht, dass sein Onkel für eine entsprechende Verfolgung sorgen könnte wegen der aus seiner Sicht nicht gesühnten, verabscheuungswürdigen schweren religiösen und politischen Verfehlung seiner, des Klägers, Eltern und seiner Ablehnung, in den Dschihad zu ziehen. | ||
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- | >Insoweit ist der Kläger vorverfolgt ausgereist, so dass in die Vermutungsregelung des Art. 4 Abs. 4 Qualifikationsrichtlinie Anwendung findet. Es ist anzunehmen, dass der Kläger von einem ernsthaften Schaden unmittelbar bedroht war. | + | Insoweit ist der Kläger vorverfolgt ausgereist, so dass in die Vermutungsregelung des Art. 4 Abs. 4 Qualifikationsrichtlinie Anwendung findet. Es ist anzunehmen, dass der Kläger von einem ernsthaften Schaden unmittelbar bedroht war. |
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- | >Die Taliban gehören gemäß § 3c AsylG zu den Akteuren, von denen Verfolgung ausgehen kann. Dies sind nach Nr. 3 der Vorschrift nichtstaatliche Akteure, sofern die in den Nr. 1 und 2 der Vorschrift genannten Akteure (Staat, Parteien und Organisationen, | + | Die Taliban gehören gemäß § 3c AsylG zu den Akteuren, von denen Verfolgung ausgehen kann. Dies sind nach Nr. 3 der Vorschrift nichtstaatliche Akteure, sofern die in den Nr. 1 und 2 der Vorschrift genannten Akteure (Staat, Parteien und Organisationen, |
+ | Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten. Diese Voraussetzungen liegen hier vor, denn gemäß § 3d Abs. 2 AsylG muss der Schutz vor Verfolgung wirksam und darf nicht nur vorübergehender Art sein. Einen wirksamen Schutz für von den Taliban bedrohte Personen kann der afghanische Staat nach den vorliegenden Erkenntnissen in der Regel jedoch nicht gewährleisten, | ||
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>vgl. VG Düsseldorf, | >vgl. VG Düsseldorf, | ||
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>und auch hier ist dies nicht ersichtlich. | >und auch hier ist dies nicht ersichtlich. | ||
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- | >Der Kläger kann sich erfolgreich darauf berufen, dass ihm interner Schutz in Afghanistan nach § 3e Abs. 1 AsylG nicht zur Verfügung steht. Dies ist für den Kläger weder in seiner Heimatprovinz [...] noch in Kabul oder andernorts, z.B. Herat oder Mazar-e Sharif gesichert. | + | >Der Kläger kann sich erfolgreich darauf berufen, dass ihm interner Schutz in Afghanistan nach § 3e Abs. 1 AsylG nicht zur Verfügung steht. Dies ist für den Kläger weder in seiner |
+ | Heimatprovinz [...] noch in Kabul oder andernorts, z.B. Herat oder Mazar-e Sharif gesichert. | ||
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- | > | + | > |
+ | ernsthaften Schaden erleidet, er sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt. Nach § 3e Abs. 2 AsylG sind die donigen allgemeinen Gegebenheiten und die persönlichen Umstände des Antragstellers zum Zeitpunkt der Entscheidung zu berücksichtigen. | ||
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>vgl. BVerwG, Urteil vom 24.06.2008 - 10 C 43.07 -, BVerwGE 131, 198 = NVWZ 2008, 1241 und vom 14.07.2009 - 10 C 9.08 -, a.a.O. | >vgl. BVerwG, Urteil vom 24.06.2008 - 10 C 43.07 -, BVerwGE 131, 198 = NVWZ 2008, 1241 und vom 14.07.2009 - 10 C 9.08 -, a.a.O. | ||
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>VG Düsseldorf, | >VG Düsseldorf, | ||
- | >Vgl. ACCORD (Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation), | + | >Vgl. ACCORD (Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation), |
+ | für die US-Armee gearbeitet haben) in ganz Afghanistan aufzuspuren und zu verfolgen (Methoden, Netzwerke) [a-8282], vom 15.02.2013, www.ecoi.net/ | ||
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- | >Auf dieser Grundlage kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Taliban nicht nur ein Interesse an der Auffindung des Klägers und seiner Eltern haben, sondern ihnen dies auch gelingen wird; das persönliche Interesse des Onkels des Klägers erhöht die Möglichkeit des Auffindens in besonderem Maße. Dass dieses Auffinden gelingen kann, hat der Kläger geschildert; | + | >Auf dieser Grundlage kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Taliban nicht nur ein Interesse an der Auffindung des Klägers und seiner Eltern haben, sondern ihnen dies auch gelingen wird; das persönliche Interesse des Onkels des Klägers erhöht die Möglichkeit des Auffindens in besonderem Maße. Dass dieses Auffinden gelingen kann, hat der Kläger geschildert; |
+ | Klägers ihn entdeckt hatte, stellt ein starkes Indiz dafür dar, dass seine, des Onkels, Kontakte so tragfähig waren, dass er binnen weniger Wochen - so scheint es - zumindest den Fluchtort des Klägers und seiner Eltern ausfindig gemacht hat oder haben könnte. Dafür dass dies heute nicht mehr so ist, bestehen keine Anhaltspunkte. Von dem Kläger auf dieser Grundlage eine Rückkehr zu verlangen, ist für ihn unzumutbar. | ||
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>Bei angenommener Rückkehr wird der Kläger seinen Lebensunterhalt durch eigene Erwerbstätigkeit sichern müssen und dürfte daher keine Möglichkeit haben, sich zu verstecken, zumal ein Aufenthalt im Heimatdorf ausgeschlossen ist. Er würde damit nach den in Afghanistan herrschenden Mechanismen der Identifizierung und Überprüfung von Fremden seine Herkunft offenbaren müssen, womit seine Rückkehr voraussichtlich auch in seiner Heimatregion bekannt würde und damit dortigen Taliban, mithin seinem Onkel, zu Ohren kommen könnte. Umgekehrt wäre es auch möglich, dass er in Kabul als Ortsfremder und Rückkehrer aus dem Ausland den Taliban auffallen würde und diese über ihre Netzwerke Erkundigungen über ihn einholen würden. | >Bei angenommener Rückkehr wird der Kläger seinen Lebensunterhalt durch eigene Erwerbstätigkeit sichern müssen und dürfte daher keine Möglichkeit haben, sich zu verstecken, zumal ein Aufenthalt im Heimatdorf ausgeschlossen ist. Er würde damit nach den in Afghanistan herrschenden Mechanismen der Identifizierung und Überprüfung von Fremden seine Herkunft offenbaren müssen, womit seine Rückkehr voraussichtlich auch in seiner Heimatregion bekannt würde und damit dortigen Taliban, mithin seinem Onkel, zu Ohren kommen könnte. Umgekehrt wäre es auch möglich, dass er in Kabul als Ortsfremder und Rückkehrer aus dem Ausland den Taliban auffallen würde und diese über ihre Netzwerke Erkundigungen über ihn einholen würden. | ||
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>Vgl. zum Ganzen auch OVG Lüneburg, Urteil vom 28.07.2014 - 9 LB 2/13 -, juris (Rn. 26ff. und 34), und die dort wiedergegebene gutachterliche Stellungnahme des Dr. Danesch vom 30.04.2103; | >Vgl. zum Ganzen auch OVG Lüneburg, Urteil vom 28.07.2014 - 9 LB 2/13 -, juris (Rn. 26ff. und 34), und die dort wiedergegebene gutachterliche Stellungnahme des Dr. Danesch vom 30.04.2103; | ||
- | >VG Greifswald, Urteil vom 31.08.2016 - 3 A 244/16 As HGW -, juris (Rn. 41, 45). | + | VG Greifswald, Urteil vom 31.08.2016 - 3 A 244/16 As HGW -, juris (Rn. 41, 45). |
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- | >Der Einzelrichter hält es unter den Umständen des vorliegenden Falles für wahrscheinlich, | + | >Der Einzelrichter hält es unter den Umständen des vorliegenden Falles für wahrscheinlich, |
+ | Taliban den Kläger nach seiner Flucht aufgreifen werden. Dass die Taliban für derartige Fälle über Möglichkeiten verfügen, zeigt die Tatsache, dass der mit den Taliban | ||
+ | dene Onkel schon nach wenigen Wochen der Familie des Klägers auf die Spur gekommen ist. Erschwerend kommt hinzu, dass der Kläger außerhalb seines Heimatortes, | ||
+ | - nach Kontaktaufnahme durch örtliche Gruppierungen - die theoretische Möglichkeit, | ||
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>Vgl. VG Berlin, Urteil vom 14062017 - 16 K 219,17 A -, juris. | >Vgl. VG Berlin, Urteil vom 14062017 - 16 K 219,17 A -, juris. | ||
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>vgl. auch VG Lüneburg, Urteıl vom 14.08.2017 - 3 A 146/15 -, juris, und Urteil vom 29.05.2017 - 3 A 118/16 -, | >vgl. auch VG Lüneburg, Urteıl vom 14.08.2017 - 3 A 146/15 -, juris, und Urteil vom 29.05.2017 - 3 A 118/16 -, | ||
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- | >Wegen seiner gemischt-ethnischen Herkunft dürfte der Kläger ohnehin erhöhte Schwierigkeiten haben, sich der Solidarität der einen oder anderen Ethnie zu versichern oder in nach Herkunft geordneten Stadtvierteln von Kabul Obdach und Arbeit zu erhalten. Jedenfalls würde er verstärkte Nachforschungen durch die Nachbarschaft auslösen. Auch dazu hat er seine in den ersten Wochen in Kabul gemachten | + | >Wegen seiner gemischt-ethnischen Herkunft dürfte der Kläger ohnehin erhöhte Schwierigkeiten haben, sich der Solidarität der einen oder anderen Ethnie zu versichern oder in |
+ | nach Herkunft geordneten Stadtvierteln von Kabul Obdach und Arbeit zu erhalten. Jedenfalls würde er verstärkte Nachforschungen durch die Nachbarschaft auslösen. Auch dazu | ||
+ | hat er seine in den ersten Wochen in Kabul gemachten | ||
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- | >Ein Leben in vollständiger Anonymität ist nach den vorliegenden Erkenntnissen in Afghanistan auch in den Großstädten nicht möglich. Um eine Unterkunft und erst recht eine Arbeitsstelle zu finden, bedarf es sozialer Kontakte. Neu hinzuziehenden Personen wird mit Vorsicht und Misstrauen begegnet; üblich ist jedenfalls eine Rückversicherung über die Herkunft, den Status und die Absichten des Zuzüglers. Es bedarf im Rahmen des allgemein | + | >Ein Leben in vollständiger Anonymität ist nach den vorliegenden Erkenntnissen in Afghanistan auch in den Großstädten nicht möglich. Um eine Unterkunft und erst recht eine |
+ | Arbeitsstelle zu finden, bedarf es sozialer Kontakte. Neu hinzuziehenden Personen wird | ||
+ | mit Vorsicht und Misstrauen begegnet; üblich ist jedenfalls eine Rückversicherung über die | ||
+ | Herkunft, den Status und die Absichten des Zuzüglers. Es bedarf im Rahmen des allge- | ||
+ | mein erwarteten sozialen Wohlverhaltens eines glaubhaften „Leumundszeugnisses“. | ||
+ | jenige, der ein Leben in einer neuen Umgebung beginnen will, muss also zumindest | ||
+ | nen Herkunftsoıt, die Identität seiner Eltern und seine Absichten offenlegen und möglichst | ||
+ | Referenzen benennen. Mit diesen Informationen werden sodann Erkundigungen über ihn | ||
+ | eingezogen. Diese Rückfragen im Heimaton | ||
+ | Taliban-Gruppierungen über ihr Netz von Zuträgern vom neuen Aufenthaltsort eines Men- | ||
+ | schen, der für sie von Interesse ist, Kenntnis erlangen. | ||
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>Vgl. VG Düsseldorf, | >Vgl. VG Düsseldorf, |